Was sind Leitkriterien der TCM?
Die durch die diagnostischen Verfahren gewonnenen Daten werden im nächsten Schritt in das theoretische Gebäude der TCM eingeordnet. Hierzu ist eine Klassifizierung nach den sogenannten »Acht Leitkriterien« (bagang) notwendig. Hierbei handelt es sich um ein System zur Einordnung der Befunde und zum systematischen Erarbeiten einer chinesischen Diagnose. Mit ihnen wird die Richtung einer Abweichung in dreierlei Hinsicht qualitativ bestimmt:
- Befindet sich eine krankhafte Störung an der »Oberfläche« oder ist sie schon tiefer gedrungen?
- Handelt es sich um eine »Hitze-«(calor, re) oder eine »Kälte-«(algor, han)-Schädigung?
- Geht sie auf eine energetische Schmälerung (depletio, xu) oder eine Überladung (repletio, shi) zurück?
- Diesen drei Kriterien ist die Klassifizierung nach Yin und Yang übergeordnet, wobei Probleme an der »Oberfläche«, »Hitze«-Schädigung und Schrägläufigkeit (repletio) dem Yang, »Kälte«(algor)-Schädigung und energetische Erschöpfung (depletio), sowie Zeichen für tiefer eingedrungene Erkrankungen dem Yin zugeordnet werden.
Yang |
Yin |
»Oberfläche« (extima, biao) | »Inneres« (intima, li) |
»energetische Überladung« (repletio, shi) | »energetische Schwäche« (depletio, xu) |
»Hitze« (calor, re) | »Kälte« (algor, han) |
Bewertung der TCM-Diagnose
Der erste Schritt zur Bewertung der Diagnosebefunde ist die Beurteilung, wie tief eine Störung eingedrungen ist. Die Erkrankung ist entweder nur oberflächlich, wie z. B. eine akute Erkältung, oder sie ist in die Tiefe gedrungen, wie etwa eine Lungenentzündung, eine chronische Erkrankung oder ein Schlaganfall.
Eine weitere Richtungsbestimmung gibt die Bewertung der Dynamik einer Störung. Zeichen für eine beschleunigte Dynamik von Körperfunktionen wie bei einem Entzündungsprozess werden als »Hitze« bewertet: Ein gelber Zungenbelag, ein roter Zungenkörper, ein beschleunigter Puls, das Verlangen nach Kühlung, Verstopfung, gelber und konzentrierter Urin oder eine rote und trockene Haut sind Anzeichen dafür. Im Gegensatz dazu sind »Kälte«-Zeichen wie Redeunlust, allgemeines Kältegefühl, starke, ortsfeste Schmerzen oder ein verlangsamter Puls klare Zeichen für eine gebremste Dynamik oder für Blockaden, bildlich gesprochen Zeichen eines »Gelierens« oder »Erstarrens« der Körperfunktionen.
Die dritte zu differenzierende Qualität ist das vorhandene energetische Potential. Es kann geschmälert oder geschwächt sein (deplet, xu) wie nach langer Krankheit oder Mangelernährung, was sich u. a. in schwachen Pulsen, Durchfall, asthmatischen Beschwerden oder Schwindel äußert. Hingegen begünstigt eine energetische Überladung (repletio, shi) schädliche Prozesse, die die gesunden, geradläufigen Energien, schwächen. Zeichen dafür sind kräftige Pulse oder Bauchschmerzen, die sich auf Druck verschlimmern. Ein klinisches Beispiel ist ein Abszess, der in seinem Wachstum und seinem spürbaren Pochen ein hohes energetisches Potential besitzt und den übrigen Organismus in Mitleidenschaft zieht.
Mit den drei Paaren von Leitkriterien und Yin und Yang als übergeordneten Leitkriterien wird ein »dreidimensionales« Raster gebildet, in das Abweichungen vom Normalen (Zeichen einer Störung des Funktionsoptimums) richtungsmäßig eingeordnet und auf diese Weise qualifiziert werden. Im nächsten Schritt sind die auslösenden Faktoren für die Störung, die sogenannten Agenzien, ausfindig zu machen.
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Stefan Müller-Gißler ist Geschäftsführer des Verlages Müller & Steinicke, einem Spezialverlag für Homöopathie, Akupunktur und Impfen und langjähriger Mitarbeiter in der eigenen Fachbuchhandlung für Akupuntur, Homöopathie und Naturheilkunde. Durch sein langjähriges Interesse konnte ich mir umfangreiches Wissen aus diesen Bereichen aneignen.