ein Beitrag von Dr. Florian Ploberger
Wissen und Praxis der traditionellen Tibetischen Medizin wurde erstmals nach Einführung der modernen tibetischen Schrift während der Regentschaft des 33. Königs von Tibet Songtsen Gampo (617-698 n. Chr.) schriftlich niedergelegt. Zu dieser Zeit gelangte durch den kulturellen Austausch mit den Nachbarländern neues Heilwissen nach Tibet, welches die Entwicklung der Tibetischen Medizin mitbeeinflusste. Zudem ist die Tibetische Medizin eng mit der Kultur und Religion der Tibeter, dem tibetischen Buddhismus, verbunden. Laut tibetischer Tradition stammen die ursprünglichen Lehren vom Medizinbuddha (Tib. sangs rgyas sman bla) ab. Als Basistexte der Tibetischen Medizin gelten das „Gyüshi“ (tibetisch: rgyud bzhi; „Vier Tantras der Medizin“) von Yuthok Yönten Gönpo dem Älteren, der im 8. Jahrhundert lebte, und das „Yuthok Nyingthig“ von Yuthok Yönten Gönpo dem Jüngeren; er verfasste diesen Text 400 Jahre später. Im 17. Jahrhundert wurden Texte des „Gyüshi“ unter dem Titel „Der blaue Beryl“ erstmals zu Ausbildungszwecken illustriert und vom Regenten des V. Dalai Lama Desi Sanggye Gyatsho kommentiert. Noch heute wird dieser Text von angehenden Medizinern während der 6-jährigen Ausbildung zu großen Teilen auswendig gelernt.
Ursprünglich gab es zwei Wege, Tibetische Medizin zu erlernen: Einerseits innerhalb einer Familientradition; hier wurde das Wissen von der älteren Generation auf die jüngere übertragen. Andererseits war es Aufgabe großer institutioneller Ausbildungsstellen, dies zu tun. Die berühmteste war und ist sicherlich das 1916 in Lhasa gegründete Men-Tsee-Khang (Institut für Tibetische Medizin und Astrologie). Inhaltlich wird gelehrt, dass die Ursache jeglichen Leidens (insgesamt soll es 84.000 verschiedene Krankheitsbilder geben) laut Tibetischer Medizin in „ma rig pa“, im Deutschen oft mit „Unwissenheit“ übersetzt, liegt. Diese Unwissenheit besteht auf diversen Ebenen. Unter „ma rig pa“ versteht man unter anderem, dass man das Prinzip von „Ursache und Wirkung“ nicht anerkennt. Handlungen, die wir mit Körper, Rede und Geist begehen, beeinflussen unser zukünftiges Wohlergehen.
Stellenwert der Tibetische Medizin heute weltweit
Der Stellenwert hat in den letzten Jahrzehnten, sicherlich bedingt durch die zahlreichen Tätigkeiten des Dalai Lama und dessen Austausch mit westlichen Wissenschaftlern, beständig zugenommen. Westliche Menschen profitieren von der Geisteshaltung und der Denkweise der Tibeter, wie auch tibetische Mediziner durch den Austausch mit uns westlichen Ärzten profitieren können.
Diagnosemethoden
Die Diagnosemethoden der Tibetischen Medizin werden in drei Gruppen eingeteilt: Erstens die Betrachtung einschließlich Zungen und Urindiagnostik, zweitens die Berührung einschließlich der detaillierten Pulsdiagnose und drittens die Befragung. Diese Diagnosemethoden ermöglichen innerhalb der Tibetischen Medizin eine überaus präzise Diagnostik. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die Resultate aus den drei Diagnosen zusammenfassend zu bewerten, um daraus die entsprechenden therapeutischen Schritte zum Wohle der Patienten zu definieren.
Therapieformen
Die tibetische Heilkunst legt großen Wert auf die Erhaltung eines gesunden und ausgeglichenen Lebens. Da sich die verschiedenen Elemente (fünf Basiselemente der Tibetischen Medizin: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser) in einem dynamischen Gleichgewichtszustand befinden, können bereits kleinere Störungen, wie ungesunde Ernährungsweise, falsche Lebensgewohnheiten, ungünstige Klimabedingungen oder laut alten Texten „negative Einflüsse von Geistern“, das gesamte physiologische Wohlbefinden beeinträchtigen. Daher wird in der Tibetischen Medizin der Vorbeugung größte Aufmerksamkeit gewidmet, besonders der richtigen Ernährung und einer gesundheitsfördernden Lebensweise. Wenn diese beiden Faktoren die gewünschten positiven Ergebnisse nicht erfüllen können, werden Medikamente verschrieben. Es gibt unterschiedliche Verabreichungsarten, wie Dekokte, Pulver, Pillen, Säfte und medizinische Butter. Im Allgemeinen beginnt der tibetische Arzt mit der Verschreibung milder Mittel und greift bei Bedarf auf immer stärkere Methoden zurück. Weitere therapeutische Maßnahmen sind diverse sogenannte „äußere“ Therapien wie beispielsweise Moxibustion, Massage, das Baden in heißen Quellen und die Goldene Nadel-Akupunktur.
Phytotherapie in der Tibetischen Medizin
Tibetische Arzneimischungen, die in den meisten Fällen in Form von Pillen oder Pulvern verabreicht werden, enthalten zahlreiche Einzelbestandteile. Tibetische Pillen, die 50 oder gar mehr Einzelbestandteile beinhalten, sind keine Seltenheit. Diese verschiedenen Bestandteile – früher wurden neben Pflanzen und Mineralien auch tierische Wirkstoffe verwendet, die in der heutigen Zeit aber aus ethischen Überlegungen und aus Gründen des Artenschutzes nicht mehr verwendeten werden – haben oft stark differierende Geschmäcker, thermische Wirkungen sowie Funktionen. Durch diese Vorgehensweise sind tibetische Mischungen in ihrer Wirkung sehr ausgewogen und damit nebenwirkungsarm.
Interessanterweise gibt es in der Tibetischen Medizin nicht die Vorgangsweise, klassische Rezepturen individuell an den jeweiligen Patienten anzupassen bzw. durch Hinzufügen oder Weglassen einzelner oder mehrerer Bestandteile zu variieren. Als Begründung wird der große Respekt vor den Verfassern der alten Texte bzw. Ehrfurcht vor dem Medizin-Buddha, auf den die Tibetische Medizin zurückzuführen ist, angegeben. Ein Großteil der heutzutage in Tibet bzw. im Exil praktizierenden tibetischen Ärzte verwendet in der täglichen Praxis 100 bis 150 verschiedene Mischungen, die nicht individuell an den Patienten angepasst werden, sondern einer fixen Rezeptur folgen. Jedoch werden verschiedene Rezepturen dem Patienten entsprechend zusammengestellt. Diese Kombination wird über den Behandlungszeitraum dem Krankheitsverlauf angepasst und verändert. Die verwendeten Mischungen stammen aus diversen klassischen Texten. Es gibt jedoch in der Tibetische Medizin ein Argument, welches es dem Arzt ermöglicht, auch Rezepturen aus überlieferten Texten der Tibetischen Medizin abzuwandeln: Sollten gewisse Bestandteile einer Rezeptur nämlich nicht erhältlich bzw. aus Gründen des Artenschutzes nicht verwendet werden dürfen, dürfen sie substituiert werden. Diese Ersatz-Bestandteile werden nach den Kriterien Geschmack und thermische Wirkung ausgewählt und sollten dem zu ersetzenden Bestandteil möglichst ähnlich sein.
Beschreibung eines Krankheitsbildes
Abschließend noch die Beschreibung eines Krankheitsbildes: Tinnitus aus Sicht der Tibetischen Medizin. In dem bedeutendsten Werk der Tibetischen Medizin „rgyud bzhi“ ist ein ausführliches Kapitel, nämlich das 30. des dritten Abschnittes, dem Thema „rna nad“, wörtlich „Erkrankung der Ohren“ gewidmet. Auch Tinnitus wird hier im Detail mit den entsprechenden Ursachen, Symptomen sowie Therapiemöglichkeiten beschrieben. Tinnitus weist in der Tibetischen Medizin einen starken Bezug zu rlung-Krankheitsbildern auf. Dieser Begriff wird in der deutschen Sprache oft mit „Wind“ wiedergegeben.
Als Ursache der rlung-Krankheitsbilder und des Tinnitus im Speziellen wird auf geistiger Ebene ein Überschuss an „Begierde“ angesehen. Wir sind mit dem Erreichten nicht zufrieden, haben Sehnsucht nach Dingen, geistigen Eigenschaften etc., die wir nicht besitzen. Weitere Ursachen für rlung sind laut Tibetischer Medizin: zu häufige Sexualität bei Männern, Geburten bzw. Stillen bei Frauen, intensive Blutverluste, Schlafmangel; erschöpfende Tätigkeiten mit Körper, Rede und Geist oder Fasten.
An dieser Stelle noch einige allgemeine Empfehlungen: um laut rgyud bzhi rlung zu behandeln, ist das äußere Einreiben des Körpers mit Sesamöl sowie die Einnahme von Samen und Ölen, Eiern, Butter, (Pferde-, Esel- und Murmeltier)-Fleisch sowie Knochensuppen anzuraten. Darüber hinaus sollte man sich unter einen schattigen Baum setzen und sich lediglich mit Menschen umgeben, die einem wohlgesonnen sind.
Literatur-Tipps zur Vertiefung:
Ploberger, F. (2012) Die Grundlagen der Tibetischen Medizin, eine Übersetzung des Werkes „Fundamentals of Tibetan Medicine“ der Men-Tsee-Khang Publications, 2. Auflage, Schiedlberg: Bacopa.
Ploberger, F. (2013) Wurzeltantra und Tantra der Erklärungen der Tibetischen Medizin, 2. Auflage, Schiedlberg: Bacopa.
Dr. med. Florian Ploberger, B.Ac., MA, TCM-Arzt, Tibetologe, Fachbuchautor. Internationale universitäre und interdisziplinäre Lehrtätigkeit und zahlreiche Publikationen in den Themenbereichen Tibetische Medizin und TCM. Präsident der Österreichischen Ausbildungsgesellschaft für Traditionelle Chinesische Medizin (ÖAGTCM).
Mehrere Bücher veröffentlicht. (Schwerpunkte: Westliche Kräuter aus Sicht der TCM sowie Tibetische Medizin). Von der Direktion des Men-Tsee-Khang (Institut für Tibetische Medizin und Astrologie in Dharamsala, Nordindien) mit der Übersetzung der ersten beiden und des letzten Teils des bedeutendsten Werkes der Tibetischen Medizin (rgyud bzhi) beauftragt. Weitere Informationen finden Sie unter www.florianploberger.com